B.P.: Sie sind musikalischer Leiter bei
der Neuinszenierung von Meyerbeers 'Le Prophète' an der Wiener Staatsoper. Wie haben Sie
sich Meyerbeer genähert ?M.V.: Das war für mich das erste Mal, daß ich
mich mit einer Oper von Meyerbeer beschäftigt habe. Wer dirigiert heute noch
Meyerbeer ? Ich kannte die Opern von Meyerbeer nicht, bis ich vor eineinhalb Jahren
angefangen habe, den Klavierauszug von 'Le Prophète' zu studieren. Mittlerweile habe ich
viele Bücher und viele Thesen von Musikwissenschaftlern gelesen und mich viel mit ihnen
unterhalten, um diesen Mann ein bißchen mehr kennenzulernen. Es hatte ein sehr
interessantes Leben, vor allem als Komponist. Der Beginn des 19. Jahrhunderts ist auch
für die Weltgeschichte sehr spannend, vor allem soziologisch gesehen nach der Revolution
in Frankreich. Aber auch das musikalische Leben, Rossini, Verdi, Anfang des Romantismus.
Ich finde, man darf einen Komponisten nicht von seiner Zeit trennen. Das Stück selbst war
hochproblematisch, weil eine neue (kritische) Ausgabe von Ricordi gemacht wurde, in der
alle Stücke enthalten sind, die Meyerbeer selbst gestrichen hat und er hatte vor der
Premiere ziemlich viel gestrichen. Es ist auch ein Stück, das sehr lange von 'Robert der
Teufel' und 'Die Hugenotten' bis zu seiner Uraufführung gebraucht hat. Das war die dritte
Grand Opéra von Meyerbeer und sie war mit einer sehr schweren Geburt verbunden.
Angefangen hatte er sie 1836 zu komponieren und erst 1849 war die Uraufführung. Man
vermutet, zehn Jahre lang hat er komponiert und wieder gestrichen. Natürlich ist für
einen Dirigenten die Situation eine ganz andere, aber, wenn man an Don Carlos von Verdi
denkt - dieses Stück ist für einen Dirigenten auch ein großes Problem. Wie macht man
Don Carlos ? Selbst Verdi hat an diesem Stück gebastelt. Und so auch Meyerbeer. Man fragt
sich, warum hat er zum Beispiel die Ouvertüre weggestrichen ? Man hat sie jetzt
ausgegraben und sie wieder gedruckt. Hier mit den Wiener Philharmonikern habe ich sie
geprobt. Ich sage ganz offen, diese Ouvertüre ist ein sehr schwaches Stück. Es
entwickelt sich nichts. Wirklich. Ich habe es mehrmals gehört und bis zuletzt habe ich
mit dem Bühnenorchester dieses Stück noch gespielt. Ich wollte zu mir selbst sagen
können, das ist aber gut. Es gibt gute Sachen. Es fängt gut an, aber es entwickelt sich
nicht so recht. Ich habe jetzt entschieden, diese Ouvertüre rauszulassen. Es hat keinen
Sinn, nur für ein paar Wissenschaftler diese Ouvertüre zu spielen. Wir spielen in einem
Theaterstück. Diese Ouvertüre bringt für die Musik nichts. Nach fünf Wochen Proben
weiß ich, daß dieses Stück schwach ist, und ich verstehe auch, warum Meyerbeer sie
gestrichen hat. Verstehen Sie ? Wenn man sich total konzentriert mit dem Stück
beschäftigt, entdeckt man in der Musik unglaublich schöne Sachen. Der Meyerbeer hat das
Stück wunderbar orchestriert. Es ist nicht einziges Mal die Dynamik zu korrigieren. Die
Sänger kommen ganz klar durch. Man sagt immer, das ist eine Grand Opéra. Grand Opéra
bedeutet nicht unbedingt, daß es bombastisch ist. Es ist sehr groß für Orchester
geschrieben. Zum Beispiel vier Fagotte, vier Trompeten, zwei Pistons, zwei Trompeten, vier
Hörner. Man weiß, daß es sogar mit sechs gespielt wird. Ich spiele mit vieren, das
genügt. Drei Posaunen. Und vier Percussion. Orgel. 16 Fanfaren auf der Bühne. Also das
ist in diesem Sinne Grand Opéra, aber die Stücke selbst, auch die großen Chorstücke,
sind nicht so bombastisch orchestriert. Es ist immer sehr intelligent von Meyerbeer
gemacht. Ich habe im Verlauf der Proben gemerkt, daß nicht sehr viele Retuschen zu machen
sind, was eine sehr interessante Sache ist. Zum Beispiel wie in dieser Zeit ein Komponist
ein zweites Thema mit einer Trompete und einer Baßklarinette komponiert, das ist genial.
Die Farbe der Bassklarinette und der Trompete absichtlich zusammen in dem berühmten
Krönungsmarsch bringt. Es gibt dieses Thema, erstmals mit den Geigern und dann Trompete
und Bassklarinette, das ist phantastisch. Auch die Pauke ist unglaublich gut geschrieben,
die Paukenstimme. Es wird zum Beispiel ein Thema dieser Oper von der Pauke alleine
gespielt. Das ist interessant. Das kannte ich vorher nicht. Also dieses Stück ist in
bezug auf die Orchestrierung und auf die Art für die Gesangsstimme zu schreiben, sehr
interessant. Und speziell für die Mezzostimme, für Agnes Baltsa als Fidès, ist es eine
extreme Rolle. Also jeder Mezzo kann von einer solchen Partie träumen. Das ist eine
Partie, in der sie von Anfang bis zum Ende, abgesehen vom dritten Akt, dauernd singt und
dann auch noch meist Koloratur. Das ist ein ganz extreme Rolle, aber toll.
B.P.: Und, wie würden Sie die Rolle des Jean bewerten ?
M.V.: Jean de Leyden ist für mich eine wichtige Rolle, aber die wichtigste
Partie in diesem Stück ist Fidès. Das Stück wurde für Pauline Viardot geschrieben.
Jeder weiß, daß das Stück nicht sofort aufgeführt wurde, weil der Maestro eine ganz
präzise Besetzung haben wollte, und man hat ihm dies aus finanziellen Gründen nicht
erlaubt. Und dann hat er endlich die Pauline Viardot bekommen und das war für ihn das
Wichtigste, daß sie das singen konnte und sie hat die Premiere gesungen. Das Stück ist
für die Mutter geschrieben. Der Mittelpunkt dieses Stückes und von dem ganzen Leben
Meyerbeers war die Mutter und die jüdische Familie - seine Mutter war so omnipräsent in
seinem Leben, daß in jeder seiner Oper und speziell in dieser die Figur der Mutter
unglaublich wichtig ist. Der Jean hat eine Partie, die immer auf der passaggio liegt. Das
ist eine sehr schwere Partie für den Tenor und speziell das Ende des dritten Aktes, wo er
sehr auf der mittelhohen Lage der Stimme singt und nie eine Stelle besitzt, wo er sich
ausruhen kann. Insofern ist die Partie - partia tesa sagt man im Italienischen - sehr
gespannt für die Stimmlage. Der Tenor hat am Ende große Duette mit seiner Mutter und ein
Terzett. Im letzten, im fünften Akt hat er sehr viel zu singen. Aber für mich ist diese
Oper wirklich eine `Mezzosoprane-Oper'.
B.P.: Also würden Sie in keinem Fall Äußerungen unterstützen, die
über Meyerbeers Werke gemacht wurden, daß sie Effekthascherei und oberflächlich wären
?
M.V.: Wissen Sie, die Kritiken sind oft in seiner Zeit gekommen. Selbst von
Wagner und Schumann. Aber diese Kritik ist nur natürlich. Er war ein Mann, der fünzig
Jahre lang so viel Erfolg mit seinen Stücken hatte. Angefangen mit dem Belcanto in
Italien, dann durch das Melodrama und die Grand Opéra. Danach sind Leute gekommen wie
Richard Wagner. Aber ich habe den Eindruck, daß auch Wagner Meyerbeer mochte. Als er eine
Aufführung von 'Le Prophète' gehört hatte, hat er es anschließend ganz anders
orchestriert. 'Das ist ganz schlecht orchestriert, das muß man so machen' und er hat das
gemacht. Wer kann das machen, wenn er das Stück nicht gerne mag ? Wer kann ein Stück
mitnehmen - als Komponist - und es wieder orchestrieren, weil er es nicht gut findet ?
Wenn man ein Stück nicht gern hat, macht man das nicht. Diese Geschichte von Wagner ist
sehr interessant. Und ich persönlich finde, daß 'Le Prophète' ein paar Schwächen hat,
aber welches Stück hat keine Schwächen ? Was mich so fasziniert, ist erstens die
Geschichte und dann die Psychologie der Personen. Die Liebesgeschichte ist für mich
wirklich sekundär, die Liebesgeschichte zwischen Berthe und Jean, also dem Sopran und dem
Tenor, wie in jeder Oper der Welt. Sopran und Tenor lieben sich und Bariton will nicht.
Also kurz gesagt, ein Lexikon der Oper, für die Leute, die die Oper nicht kennen. Die
Liebesgeschichte zwischen Sopran und Tenor ist nicht so wichtig, sondern die
Liebesgeschichte zwischen der Mutter und Sohn. Der Fanatismus von diesem Mann, der ein
ganzes Volk dazu bringt, ihm zu folgen. Wie jeder Fanatismus. Und insofern ist dieses
Stück auch heutzutage hochpräsent, weil, man muß und man soll gegen jeden, egal wie er
heißt, Fanatismus kämpfen und dieses Stück spricht von diesem Thema und insofern ist
dieses Stück sehr modern. Die Musik ist natürlich nicht modern, sondern die Reflektion
einer Zeit. Deshalb bin ich sehr froh, daß ich so viel Repertoire in dem italienischen
Belcanto und dem Melodrama gemacht habe, denn dieses Stück kommt sofort danach und man
hört, daß Meyerbeer beeinflußt ist von dem Melodrama der l'ottocento italiano, von
Donizetti, Bellini und vielleicht auch dem frühen Verdi.
B.P.: Könnte es sein, daß Sie, der Sie ja in der französischen Schweiz
geboren sind, einen italienischen und Schweizer Paß besitzen, in Deutschland sehr viel
gearbeitet haben, auch sich deshalb mit Meyerbeer so gut identifizieren können oder mit
seinem Stück, da er ja eben gerade diese drei Nationalitäten, die italienische,
französische und deutsche, vereint.
M.V.: Das ist interessant, was Sie sagen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur,
daß ich wie jeder meiner Kollegen bin. Wenn man ein Stück das erste Mal in die Hand
nimmt und am Klavier spielt, findet man immer, oh, das ist nicht gut und das ist nicht
gut. Und je mehr man mit diesem Stück zu tun hat, je mehr man Kleinigkeiten entdeckt, die
uns dieses Stück lieben lassen, um so mehr mag man ein Stück. Mittlerweile habe ich
dieses Stück sehr gern. Muß ich natürlich auch, denn sonst kann ich dieses Stück nicht
verteidigen. Mit dem Orchester, mit den Sängern. Ich hoffe, das Publikum - das ist das
große Fragezeichen - wird das Stück auch mögen. Dies ist, das Letzte und das
Wichtigste.
Das Gespräch führte Birgit Popp