Interview

Interview mit Cesare Lievi zu seiner Regie bei `Manon' an der Deutschen Oper Berlin
Cesare Lievi
Der Italiener vom Gardasee ist Regisseur, Schriftsteller und studierter Philosoph. Er gilt als  einer der großen Poeten des Theaters, der zunächst Erfolge im Sprechtheater feierte (1984 'Premio Ubu' mit seiner Inszenierung von Georg Trakls Herzog Blaubart auf der Biennale in Venedig). Seit der Inszenierung von La Clemenza di Tito (1989) und Macbeth (1990) an der Oper der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main ist die Oper zu seiner zweiten künstlerischen Heimat geworden. Es folgte 1991 Parsifal in Mailand und seit seiner Capriccio 1992 in Zürich inszeniert er dort jede Spielsaison mindesatens eine Neuproduktion (Ariadne auf Naxos, 1993, La Clemenza di Tito, 1994, Die Frau ohne Schatten, 1994, Hoffmanns Erzählungen, 1995, Schlafes Bruder von Willi, 1996 als Uraufführung, Le Villy, 1997). 1997 gab er mit La Cenerentola sein Debüt an der MET, mit Massenets 'Manon' debütierte Cesare Lievi im Juni 1998 an der Deutschen Oper Berlin.
B.P.: Bei der Arbeit an 'Manon' von Massenet haben Sie sich sehr intensiv mit der Romanvorlage von Abbé Prévost beschäftigt, weil Sie der Meinung sind, daß im Libretto die Figuren nicht so klar herauskommen. Ist das normal für Sie bei einer Operninszenierung oder war dies mehr eine Ausnahme, daß Sie so stark auf die Romanvorlage zurückgriffen ?

Cesare Lievi: Wenn ein Text besteht, dann lese ich ihn gerne. Ich bin gewöhnt, viel zu lesen, weil ich auch Philosoph und nicht nur Regisseur und Schriftsteller bin. Ich lese viel und bevor ich anfange, eine Idee zu haben, versuche ich, alles zu lesen, was mit dieser Oper und mit diesem Autor zu tun hat. Ich versuche immer zu vermeiden, das Stück aus der Sicht von Musikkritikern, Musikhistorikern und so zu sehen. Oft sind die theoretischen Interpretationen gut für die Bücher und schlecht für die Bühne. Natürlich versuche ich immer, alles zu wissen, was mit der Oper und mit dem Autor zu tun hat. Manchmal bringt es etwas, manchmal bringt es wenig. Bei 'Manon' war es wirklich nötig, weil da ist es [im Roman von Abbé Prévost] wirklich sehr eindeutig. Aber in den Jahrhunderten seit der Erscheinung dieses Romans hat sich die Figur der Manon in eine mythische Figur verwandelt. In dieser Situation ist es immer besser, den Ursprung zu lesen.

B.P.: Was ist für Sie die wichtigste Botschaft von 'Manon' ?

C.L.: Bei dem Roman ist es sehr eindeutig, daß Abbé Prévost ein Buch zur Erziehung der Jugend schreiben wollte. Ein Buch, in dem beschrieben wird, wie man werden kann, wenn man nicht gut und fleißig, moralisch und religiös lebt. Dieses Problem ist bei Massenet nicht vorhanden. Ich finde, Massenet träumt von einer Frau. Einer Frau, die das Leben liebt, die zu dem Leben 'Ja' sagt und alles ist möglich. Am Ende träumt er von einer Frau, die für die Liebe alles macht, auch die Zerstörung. Alles provoziert bis hin zur eigenen Zerstörung.

B.P.: Wobei dies eigentlich auch auf Des Grieux zutrifft, daß er für die Liebe auch die Selbstzerstörung in Kauf nimmt. Also eigentlich für beide Geschlechter gilt.

C.L.: Ja, für beide.

B.P.: Wenn man speziell Ihre 'Manon'-Inszenierung an der Deutschen Oper sieht, gibt es einige, wenn auch wenige Dinge, bei denen ich mir überlege, was Ihr Gedankengang dabei war. Z.B. haben Sie fast über die ganze Oper hinweg einen Schreiber ins Bühnenbild integriert.

C.L.: Ja, den Chronisten. Die Idee war, immer daran zu denken, daß diese Oper von einer Erzählung und die Erzählung von dem Leben kommt. Es gibt diese Verbindung Leben-Erzählung-Oper. Und, ich finde es sehr schön, wenn am Ende, wenn Manon stirbt, der Chronist so ins Leere schaut und sagt, 'Ba, was habe ich geschrieben, was habe ich gemacht ?' Natürlich könnte auch ich dieser Schriftsteller und Chronist sein, da ich die Sache wieder geschrieben habe. Das Ganze bin ich, Massenet und Prévost in einer Person.

B.P.: Sie haben sich sozusagen mit in die Oper eingebracht.

C.L.: Ja, jetzt sieht der Zuschauer, was ich geschrieben habe. Das ist meine Schrift.

B.P.: Eine andere Sache ist es, daß Sie die Kostüme von dem 18. Jahrhundert in das 19. Jahrhundert verlagert haben, was war Ihr Gedanke dabei ?

C.L.: Ich finde, daß es für diese Oper besser ist, die Kostüme von der Zeit des Komponisten zu benutzen als von der Zeit des 18. Jahrhunderts, weil es sowieso die Musik des 19. Jahrhunderts ist. Ich finde mit Kostümen des 18. Jahrhunderts gibt es mit dieser Musik immer ein großes Chaos. Massenet macht die Musik manchmal nach, es gibt Menuette z.B., aber die Farbe ist immer die Farbe der Musik der Zeit von Massenet. Ich liebe nicht il falso (das Falsche) im Theater. Außerdem finde ich, daß die Situationen, die Figuren in diesen Kostümen besser herauskommen. Denken Sie nur an Lescaut. Wenn Lescaut als Gardist wie im 18. Jahrhundert angezogen wäre, wäre es schwierig zu verstehen, was das ist. Wenn ich ein Polizist oder ein Militär des 19. Jahrhunderts sehe,  ist das leichter zu verstehen. So die Beziehungen und auch die Eleganz der Personen. Die Eleganz von einer Frau, das Erotische. Es ist leichter den Eros von einer Frau mit Kostümen des 19. Jahrhunderts herauszubringen als in Kostümen des 18. Jahrhunderts.

B.P.: Was Sie auch gemacht haben, ist, die ganze Inszenierung mehr oder weniger in einem Bahnhofrahmen zu halten. Also sowohl von dem einstöckigen Bühnenbild her, als auch damit, daß Sie fast immer Eisenbahnwagons ins Bühnenbild einbeziehen.

C.L.: Die Idee ist, der Ort, wo das spielt, ist immer ein Ort des Übergangs, wo die Figuren keine Menschen, sondern immer Passagiere sind. Das paßt sehr gut zur Musik. Die Musik hat einen starken impressionistischen Klang und Farbe. Impressionismus bedeutet, alles wird von den Nerven gespürt und alles ist nicht entschieden, nicht klar in den Zeichen. Als wäre alles in Bewegung und im Übergang. Ich glaube, diese Figuren machen eine Reise ohne Anfang und Ende. Sie sind immer auf der Reise und sie sind nicht Zuhause, nicht bei sich selbst.

B.P.: Sie haben zuletzt bei der Szene am Kai von Le Havre eine Wand mit Graffities hineingenommen. Wollten Sie ganz einfach damit den Gegenwartsbezug herstellen, oder hatte es noch eine andere Bedeutung ?

C.L.: Es war die Idee, die Geschichte in unsere Zeit zu bringen, weil die Geschichte auch etwas zeitlos ist. Und es ist aber auch eindeutig, daß alles zur gleichen Zeit alles etwas vom Kopf des Schriftstellers kommt, deshalb ist am Anfang des fünften Aktes die Bühne [bis auf den Schriftsteller im ersten Stock] leer. Erst langsam ist das neue Ambiente zu sehen.

B.P.: Sie haben Ihr ganzes Team mit Bühnenbildnern, Kostümbildnern und Beleuchter mitgebracht und Sie haben sehr viel Wert auf die Stimmung durch das wechselnde Licht gelegt.

C.L.: Ja, natürlich. Die Beleuchtung ist wirklich sehr wichtig. Es gibt eine Regie der Beleuchtung. Die Deutschen beleuchten oft, weil man die Schauspieler sehen muß. Die Italiener beleuchten auch, um eine Geschichte zu erzählen.

B.P.: Mir war es manchmal im Vergleich zur Musik, weniger zum Inhalt des Stückes, der ja recht tragisch ist, ein Ton zu trist, natürlich nicht in allen Momenten.

C.L.: Trist im Vergleich mit der Musik. Ja, ja, sicher. Mit 'trist' meinen Sie grau ?

B.P.: Ja, etwas.

C.L.: Ja, aber das wollte ich. Ich wollte keine zu lebendige Geschichte erzählen. Als Theater wollte ich wirklich weiß-schwarz, weiß-schwarz.  Es kommt nur ein großes Licht am Ende, dieser Morgen.

B.P.: Wie sieht das aus, wenn Sie sich auf eine Oper vorbereiten ? Arbeiten Sie die Partitur für sich durch oder zusammen mit dem Dirigenten oder hören Sie sich ganz einfach eine Gesamt-
aufnahme an ? Wie sieht das von der musikalischen Seite her aus, wie setzen Sie diese um ?

C.L.: Ich höre mir die Musik ein Jahr lang an, so daß ich sie auswendig kenne und dann entwickle ich das Stück auswendig. Natürlich, wenn man mit dem Dirigenten spricht, dann an Hand der Partitur. Aber, die Opern, die ich inszeniere, kenne ich alle auswendig. Ich könnte 'Manon' jetzt vom Anfang bis zum Ende singen.


Das Interview führte Birgit Popp.


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