Bregenzer Festspiele -
Seebühne, 19. Juli 2012
André Chénier
Das Spiel auf dem See beginnt
Zum
zweiten Mal nach 2011 hebt sich der immaginäre Premierenvorhang für Keith
Warners Inszenierung von Umberto Giordanos packendem Meisterwerk Andrea
(André) Chénier, dem
Revolutionsdrama um den französischen Dichter adeliger Herkunft, der als
nicht genügend radikaler Revolutionär mit nur 31 Jahren in Paris unter der
Guillotine endete. Eine faszinierende Mischung aus einer romantischen
Liebesgeschichte; eines immer aktuellen Revolutionsthemas, denn auch die
heutigen Revolutionen verschlingen teils ihre Kinder und korrumpieren ihre
Akteure, sobald sie selbst die Macht in Händen halten, und werfen die Frage
auf, ob sich der Einsatz und die verlorenen Menschenleben gelohnt haben;
einer unter die Haut gehenden Musik mit zahlreichen Arien, Duetten und
Massenszenen; einem imposanten Bühnenbild mit Hightech-Performance ebenso
wie menschlicher Akrobatik und Sängern, von denen neben gesanglicher
Höchstleistung körperliche Fitness wie Mut abverlangt wird.
Erstmals
wurde dabei auf dem Bodensee durch den britischen Regisseur
Keith Warner und seinem Bühnenbildner David Fielding ein Gemälde auf der
Seebühne als Bühnenbild umgesetzt. Das Gemälde ‚Der Tod des Marat’ des
Revolutionsmalers Jacques-Louis David zeigt den in seiner Badewanne mit
einem Messer von
Charlotte Corday
erstochenen, radikalen Revolutionsführer Jean-Paul Marat, der einen Brief in
der Hand hält, mit dem sich seine Mörderin Zutritt zu ihm verschaffte (die
Einladung zum Ball bei Gräfin Coigny wechselt während der Oper zum
Brieftext).
Tagsüber mit geschlossenen Augenlidern und Mund gibt die rund 26 Meter aus
dem Bodensee ragende, sechzig Tonnen schwere Büste (der Wasserstand wechselt
bis zu vier Metern) den Eindruck eines friedlich schlafenden Menschen.
Dieser Eindruck ändert sich schnell, sobald das Spiel auf der Seebühne nach
Sonnenuntergang begonnen hat, und variiert vom Toten mit geöffneten Augen
und Mund bis zur Totenmaske, bei der Augen und Mund nur noch dunkle
Öffnungen sind.
Öffnungen, aus denen während des Spiels auch die Solisten singen oder gar
entsteigen. Die blinde Madelon opfert ihren Enkel als Rekruten der
Revolution und verkündet dies aus dem Mund des Ermordeten. Die beiden Sänger
des Spitzels Incredibile – Peter Bronder und Peter Marsh – seilen sich
während ihrer Auftrittsarie aus dem rechten Auge des Marat auf die Buchkante
ab – während gleichzeitig auf der Brief-Plattform die Jakobiner die Frauen
demütigen. Nicht nur von den beiden Tenören werden große körperliche
Leistungen abverlangt, sondern auch von allen anderen Solisten und
Chormitgliedern, immerhin gilt es 157 Stufen auf der Bühne zu bewältigen und
hinter der Bühne noch fast ebenso viele, um überhaupt auf die Bühne zu
gelangen (ein Gefühl hierfür kann der Zuschauer während einer sehr
empfehlenswerten Bühnenführung (Photos) erhalten). Besonderen Mut müssen auch die
drei Sänger des André Chénier (alle Hauptpartien sind zwei- bis dreifach
besetzt, als Titelheld ist u.a. wieder der aus der TV-Übertragung bekannte
mexikanische Tenor Héctor Sandoval zu erleben). Auf seiner Flucht muss er
vom Buch rund acht Meter tief in den Bodensee springen.
Nicht
der Einzige, der baden geht. Allerdings sind die anderen Akteure Akrobaten
und Stuntmänner wie - frauen, die im Spiegel durch die Lüfte fliegen oder
auf dem Haupt Marats tanzen oder ins Wasser springen. Keith Warner und David
Fielding haben die spektakulären Szenen geschickt in die mitreißende
Handlung eingebettet und zugleich auf viele Details wert gelegt. So
taucht das Messer aus dem Bodensee auf und brennen während der
zweistündigen Aufführung die Kerzen am Spiegel ab.
Auch sind die Flecken auf der Haut Marats keineswegs
eine Alterserscheinung des Bühnenbilds sondern gewollt, denn Marat litt
unter einer Hauterkrankung, wegen der er häufig Bäder in der Badewanne nahm.
Prunkvoll und detailfreudig sind auch die faszinierenden Kostümen, Perücken
und Hüte der Kostümbildnerin Constance Hoffman. Für die Choreographie
zeichnet sich Lynne Page, für das die Akteure immer gut in Szene setzende
Licht Davy Cunningham verantwortlich.
Anders wie noch vor ein paar Jahren sitzt das Orchester, die Wiener
Symphoniker unter der Leitung von Ulf Schirmer bzw. Enrico Calesso, nicht
mehr im Kern der auf 300 Holz- und Stahlpiloten ruhenden, festinstallierten
Seebühne, auf der sich alle zwei Jahre das Bühnenbild ändert, sondern im
Orchestergraben des Festspielhauses. Über Kameras sind Dirigent und Bühne
miteinander im ständigen Sichtkontakt. 850 Lautsprecher im Publikumsraum
übertragen den Sound auf die Zuschauertribünen. Ein extra für die Bregenzer
Seebühne entwickeltes Soundsystem mit achtzig im Bühnenbild integrierten
Lautsprechern (Akustik: Wolfgang Fritz) lässt die Stimme der Sänger immer an
der Stelle auf der Bühne erklingen, an der sich der Sänger bzw. die Sängerin
befindet. Von allen 7000 Zuschauerplätzen besteht eine gute Sicht auf das
Geschehen.
Die
1896 in Mailand uraufgeführte Verismo-Oper Andrea Chénier gehört zwar nicht
zu den bekanntesten ihres Genres, was aber angesichts ihrer packenden
Dramaturgie (Libretto: Luigi Illica) und ihrer ergreifenden Melodien kaum
verständlich ist. Ebenso wenig wie die Reaktion mancher Reiseveranstalter,
die, wie die Bregenzer Operndirektorin Susanne Schmidt in einem
Radiogespräch bekundete, nicht bereit waren, dreißig Sekunden zu opfern, um
ihrer Klientel diese Oper zu erklären (die im übrigen seit vielen Jahren zum
Repertoire der Wiener Staatsoper zählt) und sie deshalb nicht in ihrem
Programm aufnahmen. Vom 19. Juli bis zum 18. August 2012 besitzt aber jeder
Opernfreund und die, die es noch werden wollen, die Möglichkeit, sich von
dieser Produktion faszinieren zu lassen. Viele nützliche Informationen
finden sich auf
www.bregenzerfestspiele.com. Besonders empfehlenswert sind die Videos (http://www.bregenzerfestspiele.com/de/video
) und dort besonders die Beiträge
Die
Entstehung von André Chénier und
André Chénier Das Bühnenbild. Alle Videos sind auch auf
www.youtube.com zu finden.
Text:
Birgit Popp, Photos: Bregenzer Festspiele und privat
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