Neil Shicoff als Hoffmann
Es hätte ein Plácido-Domingo-Festival Ende April, Anfang Mai 2001 an
der Wiener Staatsoper werden können, doch der spanische Tenor sagte wegen eines kurzen
Krankenhaus-Aufenthaltes die drei Pagliacci-Vorstellungen am 30.April, 3. und 7. Mai ab.
Dann, wegen einer während den Proben auftretenden Erkältung, auch noch die Walküre-Vorstellung am
10. Mai. Siegfried Jerusalem sprang ein für Domingo, der in diesem Januar seinen 60.
Geburtstag gefeiert hat. Aber auch Siegfried Jerusalem kränkelte und so coverte der
ursprünglich vorgesehene Sänger sein Cover und die Domingo-Gemeinde kam am Ende doch
noch zum Genuß, Plácido Domingo auf der Bühne zu erleben. Und man kann getrost sagen,
Domingo rettete den Abend, zumindest bis zu seinem Bühnentod am Ende des zweiten Aktes.
Mit kaum zu überbietender Bühnenpräsenz, großer stimmlicher Ausdruckskraft und höchst
wortverständlich sang er die ständig im anstrengenden Passagio liegende Partie des
Siegmund. Ihm ebenbürtig Gabriele Maria Ronge als Sieglinde und ein mit großer
Baßgewalt beeindruckender René Pape als deren ungeliebter Gemahl Hunding. Völlig
indisponiert und als solche angesagt war Hildegard Behrens. Zumindest zu Beginn seines
Auftrittes nicht viel besser bei Stimme war der für den ebenfalls erkrankten James Morris
als Wotan eingesprungene Oskar Hillebrandt, ein Hochgenuß dagegen Violeta Urmana als
Fricka und das Spiel der Wiener Philharmoniker unter der feinfühligen, auf das Befinden
der Sänger rücksichtnehmenden Leitung von Donald Runnicles.
Mit seinen Absagen überließ Domingo die Bühne zwei weiteren herausragenden
Sängerpersönlichkeiten, die das Geschehen an der Wiener Staatsoper im Mai dominierten
und es zu einem Festival ihrer Art machten: Neil Shicoff in den Rollen des Captain Vere in
Billy Budd und des Hoffmann in Les Contes d' Hoffmann und als sein weiblicher Gegen- oder
besser Ebenpart Edita Gruberova in der Rolle der Königin Elizabeth I. in Roberto Devereux
und der Linda di Chamounix in der gleichnamigen Donizetti-Oper.
Eric Halfvarson und Neil Shicoff im Kräftemessen
Photos: Axel Zeininger
Eigentlich war Shicoff für die Dreier-Serie, die erste nach der von
allen Seiten umjubelten Premiere der Britten-Oper Billy Budd im Februar 2001, im Mai gar nicht
vorgesehen gewesen, sondern Kurt Schreibmayer. Schon bei der Matinee im Februar hatte der
hochgewachsene Tenor eine Kostprobe seines Könnens gegeben. Doch in die Spuren von Neil
Shicoff zu treten, war eine riesige, vielleicht gar erdrückende Herausforderung, die
Schreibmayer zumindest anfangs stimmlich - fairerweise sei angemerkt, daß auch Shicoff
die immense schwierige Auftrittsarie nicht immer gleich gut gelingt - und in seiner
Darstellung am 6. Mai nur bedingt meisterte. Er war mehr einer unter gleichen als, daß er
als Kapitän herausgeragt hätte. Zwar gibt es an der Staatsoper Mitglieder, die Shicoff
nicht als Idealbesetzung in dieser Partie bezeichnen - er wäre zu klein verglichen zum
Gardemaß seiner Offiziere -, aber ist nicht gerade das Gegenteil der Fall ? Kommt durch
seine körperliche Unterlegenheit seine psychische Größe nicht gerade besonders gut zum
Ausdruck ? Shicoffs Darstellung erinnert in äußerst eindringlicher Weise an Napoleon,
was der amerikanische Tenor sicherlich auch bewußt so anlegt. Schon im Prolog kann er die
Zuhörer auf seiner Seite wissen, wenn er das Geschehen im englisch -französischen
Seekrieg zum Ausgang des 18. Jahrhunderts resümiert . Seine Darstellung des zwischen
Pflicht und Gewissens hin- und hergerissenen Captain Vere dürfte kaum zu überbieten sein
und der ORF wußte, warum er darauf bestand, daß bei der Fernsehaufzeichnung Shicoff
diese Partie singen sollte. Eine bessere Aufführung dieser Britten-Oper als am 9. und 14.
Mai kann man sich kaum vorstellen. Dies trifft auch für alle anderen Beteiligten zu,
allen voran Bo Skovhus in der Titelpartie und Eric Halfvarson als dämonischer John
Claggart, die in diesen Rollen die Partien ihres Lebens gefunden haben mögen. Am Erfolg
dieser Produktion hat Willy Decker mit seiner in allen Teilen überzeugenden Inszenierung
ebenso großen Anteil wie Donald Runnicles und 'seine' Wiener Philharmoniker. Runnicles
stellt unter Beweis, daß das Wiener Staatsopern-Orchester auch Britten herausragend
umsetzen kann, dies war in der Vergangenheit nicht immre so gewesen, aber vielleicht
wächst im Orchestergraben ja eine heimliche Liebe heran. Großartig auch der von Ernst
Dunshirn einstudierte Chor, dem vor allem am Anfang und Ende des Stückes eine tragende
Rolle zukommt.. (siehe auch Premierenbericht).
Was den Billy-Budd-Besuchern zur unverhofften Freude geriet (zumindest laut
Jahresspielplan, im Monatsspielplan war bereits die korrekte Besetzung ausgedruckt), wurde
den Shicoff-Fans, die für den 15. Mail Karten für Offenbachs Les Contes d'Hoffmann
(Hoffmanns Erzählungen) erworben hatten, zum Nachteil. Zwei Abende
hintereinander zu singen, war Shicoff natürlich nicht möglich und so mußten sie auf ihn
am 15. Mai verzichten. Überzeugende Auftritte lieferte der amerikanische Tenor, der
mittlerweile seinen Wohnort von Zürich nach Wien verlegt hat, in den
Hoffmann-Vorstellungen am 19. und 23. Mai 2001. Neil Shicoff, in seiner stimmlichen und
darstellerischen Ausdrucksweise prädestiniert für die Verkörperung zerrissener, vom
Leben gezeichneter Persönlichkeiten, versteht den Staatsopern- Besucher als Hoffmann in
allen unterschiedlichen Abschnitten der Erzählung zu fesseln, sei es im Vor- und
Nachspiel als dem Alkohol zusprechender, mit dem Leben hadernder Schriftsteller, als
jugendlicher Liebhaber im Olympia-Akt, als besorgter Verehrer im Antonia-Akt oder als im
Sinnenrausch befindlicher Freier im Giulietta-Akt. Ganz hervorragend besetzt an seiner
Seite Angelika Kirchschlager als Niklaus. Maria José Morena als Olympia glänzt zwar mit
einem klaren Sopran, aber nicht immer mit der nötigen Höhensicherheit. Inva Mula als
liebreizende Antonia geraten die Höhen oft sehr scharf, etwas weniger wäre besser,
während Enkelejda Shkosa als Giuletta ihren Mezzo verführerisch erklingen läßt. James
Morris in der Rolle der vier Bösewichter zeigte sich als beeindruckende
Bühnenpersönlichkeit, legte sein Französisch aber etwas zu nasal an. Ein Fehler, der
leider häufiger auch bei anderen Sängern zu hören ist und der den Wohlklang seiner
Stimme minderte. Immer wieder aufs Neue faszinierend ist die detailfreudige, ideenreiche
und schwungvolle Inszenierung von Andrei Serban, der Fredéric Chaslin am Pult der Wiener
Philharmoniker manchmal kräftig zusätzlichen Pfeffer gab, mit den einfallsreichen
Kostümen und Bühnenbild von Richard Hudson.
Birgit Popp