Alle Situationen werden in der Enge des Schiffes komprimiert, die Zutaten entsprechen
jedoch bis heute dem Alltagsleben jedes Einzelnen. Ein Aspekt, der Neil Shicoff besonders
bewog, diese Rolle zu übernehmen, 'Mich interessiert die moralische Frage, wieweit ist
jeder Einzelne bereit, seine Moral seinen Zielen zu opfern ?" Der amerikanische Tenor
hatte selbst angefragt, als er erfuhr, daß Billy Budd erstmals an der Wiener Staatsoper
inszeniert werden soll, ob er diese zentrale Rolle in der Position zwischen Gut und Böse
übernehmen könne. Der für die Darstellung zerrissener Charaktere berühmte Tenor ist
geradezu die ideale Verkörperung Kapitän Veres, einerseits als 'Man of action'
andererseits als Träumer, Literat, Humanist und Philosoph als auch Vaterfigur. Doch nicht
nur in seiner Darstellung ist Shicoff überzeugend sondern ebenso stimmlich in dieser
schwierigen Partie, die zwar auch viele lyrische Momente beinhaltet, jedoch sehr oft ins
Fach des Heldentenors hinübergeht und sich meistens in einer anstrengenden Mittellage
bewegt. Ein Grund, warum bei der Wiederbelebung der Oper 1960, fast zehn Jahre nach ihrer
Uraufführung unter dem Dirigat des Komponisten, Benjamin Britten die ursprünglich
vieraktige Fassung in eine zweiaktige revidierte. Der Tenor der Uraufführung und
Wiederbelebung, Brittens Lebenspartner Peter Pears hatte den Komponisten darum gebeten,
seinen Part zu verkleinern. In der nun erstmals in Österreich aufgeführten vieraktigen
Fassung ist die Auftrittsszene von Kapitän Vere am Ende des ersten Aktes wieder
enthalten, die ihn als 'Man of Action' einführt. In dieser Szene kommt es zur ersten
Begegnung zwischen Billy Budd und dem Kapitän, in der der Vortopp-Matrose seine
Begeisterung für Vere zum Ausdruck bringt und seine später eingelöste Bereitschaft,
für ihn zu sterben, und Kapitän Vere in Billy Budd das Gute erkennt.
Während Neil Shicoff, der bereits große Erfolge u.a. an der Wiener Staatsoper in der
Titelpartie von Brittens Peter Grimes feierte, in der Rolle des Kapitän Vere debütierte,
hat der dänische Bariton Bo Skovhus schon mehrfach den Billy Budd interpretiert (u.a.
Köln und Houston) und sie als naiv-gutmütige, etwas schlaksige Verkörperung des
Positiven zu einer seiner überzeugendsten Partien erarbeitet. Schon bei der Uraufführung
vermerkten die Kritiker, daß etliche Augen im Premierenpublikum nicht trocken blieben,
und selbiges gilt auch für die Premiere an der Wiener Staatsoper. Das Wiegenlied (des
Todes) von Billy Budd im vierten Akt, einer der lyrischsten Momente der Oper, geht unter
die Haut ebenso wie die Arie des Kapitäns, als er den Tod Billys beschließt, und sein
Epilog. In seiner Ballade mit realen und visionären Inhalten - hervorragend musikalisch
vertont durch den solistischen Einsatz der Piccolo-Flöte - geht Billy Budd gefaßt in den
Tod ('Ich bin stark und ich weiß es und ich bleibe stark und das ist alles und das ist
genug.') und sieht sich am Meeresgrund unter Algen begraben liegen bzw. ein Schiff kommen,
daß ihn in ein anderes Land bringt.
Auch Billy Budds Gegenspieler, der gewalttätige, böse John Claggart, von der
Mannschaft auch als Jimmy Legs bezeichnet, findet in dieser Inszenierung mit dem
amerikanischen Baß Eric Halfvarson seine ideale Verkörperung. Mit seiner Partie setzt
Britten eine Reminiszenz an Verdi - an Jago aber vor allem an den Großinquisitor - als
Gestalt aber auch musikalisch. Die tiefen Baßklänge, die den Aufritt des
Großinquisitors zum Duett mit Philipp II. in Verdis Don Carlo ankündigen, sind fast
identisch mit den Klängen zum Auftritt Claggarts, die zum Duett mit Kapitän Vere
führen, in dem er Billy Budd der Anstiftung zur Meuterei beschuldigt. In beiden Fällen
wissen die Gegenüber des Claggarts wie des Großinquisitors, daß das Böse im Unrecht
ist und doch müssen sie sich ihm unterwerfen. Eric Halfvarson ist mit seinem schwarzen
Baß und seiner Darstellung die ideale Personifizierung des Großinquisitors, wie zuletzt
wieder während der Verdi-Wochen an der Wiener Staatsoper bewiesen, und eine ebensolche in
Stimme und Erscheinung als Claggart. Ein Böser mit hoher Intelligenz, dem man in seiner
Erkennung des Guten und seiner daraus entstehenden, unerfüllbaren Sehnsucht zum Guten,
trotz seiner Intriganz und seiner Zerstörungsabsicht des Guten noch Sympathien
entgegenbringen kann.
Wie die drei Hauptpartien sind auch alle weiteren 13 Solopartien (überwiegend) mit
Ensemblemitgliedern optimal besetzt: John Nuzzo, in einer seiner ersten größeren Rollen
an der Staatsoper als Neuling, Alfred Sramek, als Billy Budd bis in den Tod beistehender
Freund Dansker, der Wiener Staatsopern-Debütant Robert Bork als Mr. Redburn, Wolfgang
Bankl als Mr. Flint, David Cole Johnson als Leutnant Redcliffe, John Dickie als Red
Whiskers oder Cosmin Ifrim als Squeak, um nur einige der Solisten zu nennen, in dieser
reinen Männeroper, die auch ohne Liebesduett berührt und von Liebe handelt.
Eine gewichtige Rolle spielt in dieser Oper der Chor - bestens einstudiert von Ernst
Dunshirn -, der die Handlung - abgesehen von Prolog und Epilog des Kapitäns - umrahmt.
Der erste Bild des ersten Aktes vermittelt zugleich mit der Chorszene der segelhissenden
und deckschrubbenden Matrosen die angespannte und gewalttätige Stimmung auf dem Schiff.
Hier ist der Chor gebeugt und besitzt ausführende Gestalt, in der Schlußszene des
vierten Aktes geht die Bedrohung vom Chor aus, der sich nur durch die Erscheinung Veres
und den Segen Billys unter Kontrolle halten läßt. Hervorragend 'unter Kontrolle' und
immer in einem Spannungsbogen hält Donald Runnicles Chor und Orchester der Wiener
Staatsoper und das Sängerensemble. Die Musik Brittens ist nicht leicht zugänglich in
ihrer brillanten Vielfalt und erhält ihre herausragende Wirkung insbesondere im
szenischen Einklang, der von Willy Decker mit grandioser Übereinstimmung zwischen Musik
und szenischer Gestaltung hervorgerufen wird. Der Gesang ist der Sprechstimme stark
angeglichen, was eine für die Oper eher ungewöhnlich gute Verständlichkeit des
(englischen) Textes bewirkt. Hinzukommen deutsche Übertitel, wie sie ab der nächsten
Spielzeit an der Staatsoper voraussichtlich zur regelmäßigen Einrichtung werden sollen.
Das Staatsopern- Orchester setzt Brittens Musik in all ihren Stimmungswechseln vom
düsteren Bild, über militärisch-kriegerischen Aufmarsch bis hin zur lyrischen Ballade
Billy Budds einschließlich der vielen Soloeinlagen wie von Flöte und Horn fulminant um.
In allem eine der herausragendsten Neuproduktionen an der Wiener Staatsoper der letzten
Jahre !